RUCCOLA 3

R U C C O L A  3

 

Eine Spielerei, Frau Hofrätin

Touristenverse, Frühlingstexte


März 2002/ April 2004, 36 Seiten, 80 Hefte;

 

zu Ruccola 3

Erster Zyklus: Prosa und Vers geschrieben nach einer Reise drei
            Tage Leipzig, ein Tag Weimar im März 1992

Zweiter Zyklus: Sieben kurze Gedichte nach einer Jordanien- und
            Jerusalemreise (vor der Intifada), Februar 2000

Dritter Zyklus: Ebersberger Frühlingssätze
           für Alejandra aus Bolivien, 1998

 

 

Beispiele aus Ruccola 3,

aus dem ersten Zyklus:

 

Große Vögel

Über Nacht Schnee, am 14. März 1992
Und das nach einem Stück Frühling
Der zuerst überrascht und dann verwöhnt hatte
Auffallend rechts und links vom D-Zug München-Leipzig
Über den erschrockenen Flächen die
 Beutelustigen
 Heiter sicher kreisenden
 Bussarde und Co
Aber erst in den neuen Ländern
Bekam ich sie in den Haikublick
 

 

 

 

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Vor der Nikolaikirche

 

Vor der Nikolaikirche einer:
Kleine Pelzjacke, große Fahne
Aus Danzig, der uns um Fahrgeld anbettelt
Damit er seine Arbeit als Pfleger in - ?
antreten könne, und dessen
 verfrorene
 besoffene
 übernächtigte
 überschnappende
 Freude
 darüber daß
 seine Mutter
 eine Deutsche
 war
 wäre
 wirklich
ist
 

 

 

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Die Winterkälte im März

 

Die Winterkälte im März war das stramme Seil, das uns von Samstag
bis Mittwoch beim Fahren und Gehen faßte und vorwärtszog. Aber es
gab ja die Gastfreundschaft, Toast, Apfelsinen, Blumen und Bier; sechs
Zimmer Altbau, zwei Eimer Koks und zwei Eimer Kohlen am Tag...,
zwei Autos in der Familie, eins für die Gewandhausgeige, die nachts,
nach dem Konzert, ohne diesen Transport nicht heil nach Hause käme;
Mann und Frau unbelastet in fröhlichem Aufschwung. Aber nach Büchern
zu graben macht ihnen keinen Spaß mehr, wenn alles obenauf ist. Die
vielen warmen Tassen die Kälte entlang. Und es gab die jungen Leute,
die herzerwärmenden: ihre trockene Betroffenheit in den Kellertheatern,
ihr hellstes Kinovergnügen in Schtonk; das Lachen war bei den Zigaretten-
filmen schon in vollem Gang.

 

 

 

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In Leipzig wurden uns

 

In Leipzig wurden uns die Stationen
Der Straßenbahnen nicht angesagt
Wie freundlich nachgeliefert
Höre ich jetzt im Münchner Raum
Aus den S-Bahn-Lautsprechern
Die sächsischen Stimmen

 

 

 

 

 

Beispiele aus dem zweiten Zyklus:

 

 

Nasfra 2000

 

Suleiman in Jordanien besitzt 300 Schafe

50 Ziegen, 5 Kamele

Seine 10 Kinder sind in seinem Paß eingetragen

Nasfra, seine Frau, Mitte 30

zählt die 5 Söhne auf

Sie besitzt 1 Zahn

0 Schmuck

 

 

 

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Jerusalem

 

Die innigverschwiegenen Zettelchen

in den Klagemauerritzen

Drüber

in den Ritzenbüschen

laute Spatzen

 

 

 

 

Beispiele aus dem dritten Zyklus:

 

Der erste Marienkäfer

Wir haben heute in der S-Bahn einen Marienkäfer gesehn. Wir hatten
ihn alle auf der Hand. Aber genau, als wir aussteigen wollten, hat Lena
ihn fallen gelassen. In so eine eklige Ecke neben der Tür. Weg war er.
Laura sagte, der is eh hin. Verena hat ihn aber noch gesucht. Und dann,
als wir andern schon alle draußen waren, und die S-Bahn fuhr schon
beinah los, hat sie ihn noch erwischt. Lena wollte ihn wieder haben, aber
Verena hat ihn mir gegeben. 

 

Die erste Fliege in meiner Küche putzte sich so gründlich den Kopf,
dass sie mir sympathisch war.

 

 

 

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Die Sonne scheint im Konjunktiv

„Die Sonne scheint, ohne dass es richtig warm werden wollte.“

 „Heute ist es, wie wenn Sommer wäre.“

Duden, Band 4, Grammatik

 

Im Frühling scheint die Sonne schief.

Es empfiehlt sich: Konjunktiv.

Mal Winter, mal Sommer, scheinbar, das wär

Tempus und Modus: irregulär.

 

 

 

Es schneit im Indikativ

 

Es schneit.

Wirklich, es schneit.

In Wirklichkeit schneit es Kirschblütenblätter.

 

 

 

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Magnolienbaum

 

Das sieht nach Arbeit aus (Natur und Kunst!)

Die Augen nach vier Tagen in Venedig

Zur Unkunst umzuschwenken, in so wenig:

Ins kleingeblümte Gartenunkrautgrün.

 

Die Unbestellten warn ja mein Entzücken

Der Lerchensporn, das bunte Lungenkraut

Die jedem Gartenplan zu Leibe rücken.

Jetzt weiß ich nicht und meine Hand ist faul.

 

Doch ein Exot vorm Reihenhaus bringt Trost

Solide holzverkleidet, (er i s t Holz):

Der Tulpenbaum, Magnolia grandiflora.

Der spielt zur Not das Caffè Florian:

 

Schlohweißes Porzellan in allen Sälen

Zwar nicht zylindrig , eher Jugendstil

Doch Schokoladespur, schon alt und kühl

Und violett und braun, rinnt aus den Schalen.

 

Die Tassen weiten sich, sie sind beweglich!

Mit Spalten, Löchern, schön morbid am Grund.

Sie biegen sich zu Untertassen täglich.

Natürlich ist das weiter keine Kunst.

 

 

 

(c: Renate Gutdeutsch, Ruccola 3, 2000)