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R U C C O L A 7
Das Meer, sagt das Kind
Gedichte und Prosa um Kindheit und Kinder
März 2006, 48 Seiten, 150 Hefte Ebersberg bei München
zu Ruccola 7 Kind sein, Kinder haben, Kindheiten erinnern, beobachten, miterleben, mitbereiten, Kinderspiel, Kinderkummer und
Kindsköpfereien, das alles gehört immer schon in meinen Thementopf. Man kann solche Elemente in allen Ruccolaheften finden: als Spiel besonders stark im Anagrammheft Rucccola 2, Ich koch mir Wind. Und in Heft 6
König Ludwig Dunkel sind z.B. alle Prosateile und die Gedichte wie Finnisches Lied oder Papagena/Papageno schon eine Einladung zu unserem Heft 7. Ruccola 7 ist stark autobiographisch gefärbt - in der Wolle
meiner Erinnerungen.
Das Heft beginnt mit der eigenen Kindheit, wirft dann, ab S.18, kleine Scheinwerfer auf die meiner drei Kinder, die im ziemlich weiten Zeitraum von dreizehn Jahren geboren wurden, (wobei
die Geburt des jüngsten meinen Schreibanfängen am nächsten ist) und geht dann, etwa ab S.31 in allgemeinere Kinder- und Kindheitsbetrachtungen über.
Die Anthologie der ndl: small talk im holozän, Berlin 2005, hat aus Ruccola 6: Ungehörige Beklemmung, Hölderlinteilchen und Der Zürchersee übernommen, auch schon die Königskerzen, die hier in Heft 7 erscheinen).
Die kleine Berliner Kulturzeitschrift balkon & garten hat Unterirdisch übernommen für ihr Heft 13, www.balkon-garten.de
Beispiele aus Ruccola 7
Herkunft Westfalen
Miterzieherin war die Eiche. Stamm Starke Äste Die Zweige freundlich verschroben. Das tausendfältige Laub
Dunkelgrüne, mittelgrüne und Hellgrüne Hände. Mit ihr verwandt war der eichene Tisch An dem wir zu vielen saßen. Suppe Kartoffeln, Salat Rheinische Bratwurst. Pudding mit Rhabarber.
Unsere Hausaufgaben Machten wir an dem Tisch Nahmen auch unsere Messerchen Und schnitzten ein bißchen die Kanten entlang. Wahrscheinlich hörten wir ihn Schon mal stöhnen.
Oder seine Stühle, wenn sie zu singen versuchten: "Lieber Heiland sei so gut Lasse doch dein teures Blut In das Fegefeuer fließen..." Nie sagten sie: "Guten Appetit!"
1984?
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Königskerzen
Jedes Jahr im Sommer, wenn ich im Zug durch Deutschland fahre Freu ich mich stundenlang und immer ein bißchen verwundert
Über die Beleuchtung (tagsüber!) die schottrigen Bahndämme entlang. Große Weichgrüne Hochgelbe Pflanzengestalten. Kandelaber, Kerze und Flamme in einem Guß.
Viele Leuchter haben gleich mehrere Arme Schön steif von sich gestreckt, ein Sommerfest Wochenlang keinem und jedem zurufend. Oder gestern vom Bus aus im Norden der Stadt
Vor-Vororte, Ausfahrten, Gewerbegebiete (da stiegen die türkischen Schulkinder aus): Königskerzen in Massen, über und über von Regen Und eigentlich kaum von Sonnenzuschüssen begossen.
Auch an der U-Bahn, da wo sie, stillos, oben rumfährt Am Armeegelände vorbei, Zutritt verboten: Königskerzen, festlicher, fetter denn je. Haben sich die Niemandsstrecke entlang aufgestellt
Freiwillig, unordentlich. Von weißen Kamillen umtan. . Taugenichtse? Ja, goldenbestickte. Fahrende? Nein. Strahlend Dastehende. Selbständig. Dabei noch gesellig.
Ungeplant, aus keinerlei Pflanzenzentrum versetzt Aber heimlich Kulturträger (Heilpflanzen nämlich).
Heiligedreikönige zu Tausenden die volle Sommerausgabe. Nicht zu Besuch, sondern da aufgewachsen
Die Königlichen Auf magerstem Boden, Schotter und Schutt.
Ich frage mich immer ( Ich habe mich oft gefragt ) Wie die das schaffen, will es mir ja Nicht einfach so denken, wenn ich jetzt
Zu den Rosen- und Reihenhäusern hinfahre Zu den überfüllten Kinderzimmern und Büchern Wo ich mich alles andere frag.
2005
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Fingerhüte für Ulrike
Fingerhüte gehen in den Wäldern auf die Weide. Stille, langhalsige Tiere. Ihr Läuten ist rot, aber stumm.
Um einen Kahlschlag zu besuchen, ziehen sie sich schön an. Den Farnen, mit ihren Vorweltgeschichten, nicken sie im Vorbeigehen zu. Schwachherzigen heute halten sie eine starke Speise bereit.
Sinken sie, wenn ihre Zauberzeit um ist Ohne zu klagen, zurück? Die schönen Gestalten Erde geworden, lassen sich starrem Gehölz unterlegen. Noch Kinder von ihnen
Zusammengetrieben von festen Händen in Zimmer Schenken dem Reihenhaus Unzeitgemäßes in Fülle.
1986
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Unterirdisch
In einer Station der Métro Das Erscheinen dieser Gesichter in der Menge: Blütenblätter auf einem nassen schwarzen Ast
Ezra Pound
Wenn man in einem Tal der Unterwelt mitfließt in einer sich vorwärts bewegenden Menge, kann es sein, daß neben einem, in Augenhöhe etwa, auf einem erwachsenen Wintermantelärmel ein winziger
vermummter Arm liegt; halb liegt, halb sich, ein Zweig, vom mütterlichen Ast wegstreckt und dabei fünf Stielchen wie etwas Neuerworbenes ausbreitet. Und während man, noch immer schwimmend neben dem kleinen
Gesträuch, entdeckt, daß die wollenen, rosagrünen Hüllen von den Stielen abgefallen sind, kann man, noch bevor die Ströme auseinandergeschoben werden, leicht "Fingernägelknospen" denken. Wenn es am Ende
nicht gleich mit diesem Wort angefangen hat.
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Fata
Fata, ausgeplünderte Bäuerin Jetzt: bosnische Putzfrau Baut meinen Krimskrams So fachkundig ins Regal Als hätten wir
Vor fünfzig Jahren Zusammen gespielt.
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When he gets home
Er kommt geflogen, donnert sein Fahrrad vors Haus, bricht durch die Haustür, ächzt, küßt seiner Mutter das eine Ohr
an, schreit ihr ins andre (Nachrichten, Wünsche, Befehle), überläßt Schuhe und Schiebermütze der Wohnung im allgemeinen, stürzt zu dem von ihm selbst schwarzweiß gestrichenen Musikschrank, knöpft, dreht, schiebt
eine Beatles-Platte unter den Pflug, schwingt seinen rechten Arm zwischen die Beine nach hinten, wo er, der Arm, blind, wie er ist, nach dem Schaukelstuhl hangelt, ihn faßt und durch das halbe Wohnzimmer zieht, bis
sich der bereits in der Luft sitzende Kordhosenpo auf dem Stuhl einfindet. Die linke Hand indessen reißt an knisterndem Zellophan und zwängt dann zwischen Schenkel und Schaukelstuhllehne eine Tüte LEKKERLAND 50 g
Paprika Chips. Und während die Ohren sich nun einpendeln zwischen den Geräuschen der allgegenwärtigen Mutter und den englischen Gesängen und - bald, bald auch, Telefon her! - der Stimme des angerufenen Freundes,
wird den Augen heute eine Sonderspeise geboten, ein Buch: Dr. Raymond Moody, Leben nach dem Tod, Rowohlt, Schlagzeilenbalken. Und vierstimmig rauscht es durchs Haus, auch fünfstimmig: plus er; seine Stimme, tief
nach unten gebrochen, zur Feier von all you need is love nach ganz oben zu zittrigen Gratwanderungen aufgefordert. Dazwischen die Nachrichten von zum Leben zurückerweckten Amerikanern und knusprig pikant Chips mit
Paprikawürze. Einmal, vor etwa fünfzehn Jahren, da war dies Stereowunder noch nicht auf der Welt, saß seine Mutter am Fenster und sah in den leise fallenden Schnee. Und drehte zwischen den Fingern der einen Hand
eine Gauloise, schob sich mit der anderen Hand ein Glas Milch über den Tisch und las Briefe an Mutter, Schwester, Bruder und Freunde, Friedrich Hölderlin, Kleine Stuttgarter Ausgabe, und tat so, als hörte sie zur
gleichen Zeit das IV. Brandenburgische Konzert. Und schickte sie nicht außerdem Ohren und Augen zum Telefon rüber?
1984
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Spaltvers
Das Meer, sagt das Kind Ist größer als der Fluß Ja, sagt die Mutter Und dehnt sich und streckt sich
Größer als das Haus So groß wie die ganze Welt Und strengt sich an Gewaltig zu wachsen Aber so breit Wie das Haus Und zieht sich rechts und links Eine Wand Wenn das Haus ganz breit wär
Und ganz flach Und macht sich so flach Daß sie unter die Haustüre paßt Dann wär es Das Meer Und ist in den Fingerspitzen Schon flüssig
1985
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Das Wetterkind
Das Wetterkind mit seinen Reh-, Fasan- und Löwenhaaren Ist durch mein Haus und durch mein Zimmer durchgefahren.
Es lachte sich fast schief, als ich es fassen wollte. Es weinte in dem Eck, als ich mich selbst zusammenrollte.
Ich blitz, es donnert laut, so ging uns Zeit verloren.
Ich redete: Es hatte keine Menschenohren. Es stellt die Löwenhaare auf, das Reh scharrt schon am Boden Es schüttelt seine Pracht, da ist mir der Fasan entflogen.
1991
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Oktoberwind
Der Oktober winkt und winkt Mit seinen gelben Armen und Haaren. Die Sonne sieht ihm dabei scharf ins Herz.
Wir können die Sonne fragen: Wem denn, wem winkt der Oktober denn zu Mit seinen gelben Armen und Haaren? Dem alten Freund, dem schönen September? Oder - den kennt er noch nicht - Dem November?
Die Sonne will es uns nicht sagen Und ist am Abend abgefahren.
1996
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eine seite von 4 ½ Seiten Erinnerungsprosa
Im Garten, "in der Runde", einer Art Grotte, da, wo schon der Arnsberger Wald
anfängt, liest uns Mutter manchmal aus Westermanns Monatsheften vor. Meine ältere Schwester behauptet: Du hast die schönsten Kinderbücher geschenkt gekriegt. Mit acht Jahren, in der Küche meiner Großmama im
Münsterland, entdecke ich den Roman, der mir im bis dahin bergigsten, grünsten und besten Land der Welt, dem Sauerland, die Sehnsuchtsrichtung wies: Heidis Lehr- und Wanderjahre. Sehr liebte ich Die wunderbaren
Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott (eine deutsche Nils-Holgersson-Nachhut); und Die Langerudkinder von Marie Hamsun, die ich jetzt noch nicht ohne Freudentränen über einzelne Sätze lesen kann. Am leiden
schaftlichsten ging es mir mit Bonsels Mario und die Tiere. Gesogen, gezogen wurde ich in diesen mystischen Kinderroman. Reh und Marder, Schlange und Schuld und Dommelfeis, der Alten im Wald, ständiger Spruch:
Schaden, wohin man nur sieht. Anders spannnend, daß einem der Atem wegblieb, waren die Abenteuer bücher, die mein Bruder mir auslieh. Meine jüngere Schwester gehörte schon zu einer neuen Lesegeneration, sie besaß
die handlichen, hellblauen Pipilangstrumpfbändchen. Mit 12 bin ich noch ein Dotz und sage im Ursulineninternat in Attendorn vor allen Nonnen und Schülerinnen draußen im Garten, da, wo wir sonst Völkerball spielen,
Mörikes Septembermorgen auf. Im Nebel ruhet noch die Welt. In diesem Internat las uns einmal, ich war 13, eine uralte Nonne mit Eulengesicht in einer Vertretungsstunde ein Stück aus der Ilias vor. Ich verstand
nichts und war tief beeindruckt. Als ich ein paar Jahre lang Fahrschülerin war, las ich, was meine Mutter las: Edzard Schaper und andere katholische Romanautoren; ein Titel, der uns wichtig war, ein richtiger Trost
im strengen Katholischsein: Gott schreibt grade auch auf krummen Zeilen. Und Virginia Woolf und Thomas Wolfe. Ich hatte das Gefühl, Virginia ist mehr auf Mutters Seite, der unbändige Amerikaner auf Vaters. Wir
hörten die 50er-Jahre-Hörspiele. Das schmeckt in meiner Erinnerung nach der Gruppe 47. Mit Namen nennen kann ich aber nur noch die Donnerstagskrimiserie: Paul Temple. Später, als ich im Münsterland Abitur machte,
dann in Berlin, Grenoble und München studierte, pilgerte Mutter an allen Donnerstagen in die Nachbargemeinde Bestwig, auch ein
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ADELGUND HALT DEN MUND Böse Jahrhundertlitanei (z.B. 1906 bis 2006) Oder: Was ein Kind gesagt bekommt
Adelgund Halt den Mund Anatol Wirst du wohl Ernestine Hüte Hans, Horst und Hermine Theophil Lies nicht soviel Roman Rühr's nicht an Lili Pissenlit Hyazinth Sei kein Kind Sören Nicht stören
Giselher Der muß haben ein Gewehr Hugo Ebenso Wilhelm Arger Schelm Viktoria Ruf Hurra Ottokar Doch nicht wahr Dorothee Fieberklee Carmen Zum Erbarmen Bärbelchen Sterbelchen
Lieselchen Mein Kriselchen Laurentia Schlawenzia Margot Bißchen flott Konradin Kuck nicht hin Ingeborg Gehorch gehorch Gerda, Gudrun Habt ihr nichts zu tun Wunibald Wird's bald
Adolfi Bist a rechter Wolfi Asta Basta Renate Granate Helga Nimm dir Olgas Wolga Sarah, Moses Kurzer Prozeß Florian Geht dich nichts an Luitger Lauf noch schnell zur Luftabwehr
Friedrich Flenn nicht Andrej Komm geh Little John Geh komm Chris, Christa, Christian Packt es halt von vorne an Ruth Schon gut Grittchen Kleines Flittchen Frauke Rabauke Marlene Alte Träne
Pippilotta usw. Mach bloß deine Schularbeiten Konrad Aus der Dose. Sei nicht fad Mario Schlaf im Stroh Gabi Statt Trabi Ivan Halt an Mio Iß Bio Valentin Vitamin Lucian Löwenzahn
Laura Denk an deine Aura Bernadette McDonaldfett Marietheres Karies Wendelin Wo willst du hin Silvester Schwule Schwester Ricki Schicki Emilie Bulimie Raoul Uncool Birol Na, toll
Malte Daß er richtig schalte Sascha Sara Simeon Keinen Ton Thomas Großspaß Gabriele Gaudiseele Raffaelchen Raffikehlchen Ronny Kopie Vroni Kloni Zamira beim Familienfest Kopftuchtest
SollteSohnsein aus Korea Bist du schlauer als Andrea Benedikt Notenknick Marek Pisaschreck Mirella aus Albanien Verkaufst dich gut, bist ein Gewinn Nikolaus Glotze aus Nikola Lies doch mal
Gottwald Mordsgewalt Jakov on off Yvonne off on Amadé Aus der Schnee Zoé Weh
2004/6
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Zamira (zwei Elfchen)
Fünf Sechs, sieben Zamiras türkisene Schühchen Tanzen bis acht, ihre Füßchen
Neun
Zehn, elf Zamiras türkisene Schühchen Zurück müde Schühchen ins Tütchen
(c: Renate Gutdeutsch, Ruccola 7, 2006)
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